Zeit für mehr Loyalität.

Warum es nicht mehr reicht nur Konsument:innen unserer Lebensumgebung zu sein, sondern wir alle aktive (Stadt-) Gestalter:innen werden müssen. Ein Kommentar mit 7 Ideen, wie wir anfangen können. Diesen Beitrag habe ich Ende 2021 für das Polis Magazin formuliert.

“Wie loyal kann das Konstrukt Stadt samt ihrer Einwohner und Einwohnerinnen sein?” lautete die Frage an mich. Mein erster Gedanke: Muss es nicht eher heißen, wie loyal sollten wir Menschen eigentlich unserer Stadt gegenüber sein? Vermehrt höre ich im Freundeskreis, wenn mal wieder Unzufriedenheit über politische Enttäuschung und den Stadtalltag aufkommt: ”Ach, das wird doch hier eh nichts, wir ziehen weg.” Wie loyal ist es, ein sinkende Schiff zu verlassen, statt sich selbst zu engagieren und zu versuchen das Ruder rumzureißen? Wäre es nicht sogar unsere Pflicht als Bürger:innen uns selbst mehr zu engagieren, wenn wir finden, dass Dinge nicht gut laufen? Fehlt es uns vielleicht an einer dringend notwendigen Loyalität unserem Umfeld gegenüber?

Es ist ja schon lange kein Geheimnis mehr, dass es unserer Gesellschaft in jeglicher Hinsicht an “Commitment” fehlt, ob in der Partnerschaft, im Job oder eben im Wohnort. Gefällt uns etwas nicht mehr, kaufen wir neu, tauschen aus oder ziehen eben weg. So macht man das in einer Gesellschaft, die auf Konsum und Individualismus aufbaut und in der Hedonismus zum Stadtleben gehört wie das Ei zum Huhn. Schließlich sind es ja genau diese Werte, die viele Menschen überhaupt erst in die Städte gezogen haben und noch immer ziehen, mal unabhängig vom Faktor Arbeit. Das Sinnbild “Stadtluft macht frei” hält sich bis heute. Das Versprechen? In der Stadt kannst du alles sein. Keiner kennt dich, die Möglichkeiten sind grenzenlos. Einerseits heißt die Gestaltungsfreiheiten für den Einzelnen. Dieses Empowerment hat es ermöglicht, dass sich Menschen aus Traditionen, Strukturen und Glaubenssätzen lösen wodurch unsere Gesellschaft divers und freier wurde. Diese neue Freiheit aber kommt nicht kostenlos. Bezahlen tun wie wir mit einem Verlust des Zusammenhalts. Der Futurist Alvin Toffler schrieb bereits in den 1970er-Jahren, dass sich das Superindustriezeitalter auf Kosten des "involvements” entwickelt, und den neuen “modular man” mit sich bringt. Damit meint er, dass wir nicht mehr “involved” sind mit dem Schuhmacher, sondern unsere Beziehung nur an der Effizienz seines Tuns interessiert ist. Solange wir uns nicht mit den Träumen, Ängsten oder Themen des Schuhmachers beschäftigen, ist er für uns komplett austauschbar. Wir haben damit eine Kultur der “disposable person” geschaffen.

Der Futurist Alvin Toffler schrieb bereits in den 1970er-Jahren, dass sich das Superindustriezeitalter auf Kosten des "involvements” entwickelt, und den neuen “modular man” mit sich bringt. Damit meint er, dass wir nicht mehr “involved” sind mit dem Schuhmacher, sondern unsere Beziehung nur an der Effizienz seines Tuns interessiert ist. Solange wir uns nicht mit den Träumen, Ängsten oder Themen des Schuhmachers beschäftigen, ist er für uns komplett austauschbar. Wir haben damit eine Kultur der “disposable person” geschaffen.

Vor allem das Leben in der Stadt konzentriert sich vorwiegend auf das Funktionale und das eigene Privatleben. Was paradox klingt, da wir hier doch gerade hier das größte Kulturangebot haben. Es gäbe also genügend Begegnungsräume, ja. Aber das alles bringt nichts, wenn wir uns nicht als Gemeinschaft verstehen: “Aus Individuen und ihren Besitzansprüchen formt sich keine Stadt oder Gesellschaft” schreiben Kaltenbrunner und Jakubowski trefflich in ihrem Buch “Die Zukunft der Stadt”. Für das Leben im Anthropozän, also dem neuen menschengemachten Zeitalter, in dem wir uns befinden, aber braucht es mehr denn je eine neue Verantwortung für das Gemeinschaftliche. So hat schon Hannah Arendt in ihrem Werk “Vita activa oder Vom tätigen Leben” kritisiert, dass wir den öffentlichen Raum vernachlässigt haben, da wir einen zu einseitigen Blick aufs Tätigsein entwickelt haben. So unterscheidet Arendt zwischen arbeiten und herstellen, also dem was wir heute unter Arbeit und Wirtschaft verstehen. Darüber hinaus aber nennt Arendt noch das Handeln als eine wichtige Form des Tätigseins. Dieses Handeln bezieht sich vor allem auf den öffentlichen Raum und damit unser Leben als Gemeinschaft. Wie können wir hier eine neue Verantwortung leben? Dafür müssen wir uns gesellschaftlich neu aufstellen und vor allem ein neues Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir die Visionär:innen unserer Zeit und Gestalter:innen unserer Welt sind. Wir müssen erkennen, dass alles, was wir sehen, wenn wir aus dem Fenster gucken menschengemacht ist. Stadtplanung ist eine institutionelle Aufgabe, Stadtlebendigkeit aber ist unsere Aufgabe als Bürger:innen.

Wir müssen erkennen, dass alles, was wir sehen, wenn wir aus dem Fenster gucken menschengemacht ist. Stadtplanung ist eine institutionelle Aufgabe, Stadtlebendigkeit aber ist unsere Aufgabe als Bürger:innen.

Im Französischen unterschied man lange zwischen cite und village. Ville meint die Hülle einer Stadt, Cite die Lebensweise im Viertel also auch Haltung, Nachbarschaft und Bindung (vgl. Richard Sennett, “Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens”). So ist zum Beispiel das tägliche Verkehrschaos ville zuzuschreiben, während die Hektik und das dem Chaos zugrundeliegende modernen Stress cite zuzuordnen ist. Ville können wir nur bedingt beeinflussen, es ist Hauptaufgabe der Politik, cite aber haben wir selbst in der Hand. Es ist der Raum, in dem wir wieder eine neue Loyalität schaffen müssen. Um Loyalität zu entwickeln, braucht es Identifikation. Diese schafft man über starke Bilder, gemeinsame Missionen und verbindende Erlebnisse.

Hier 7 Punkte, wie wir dort hinkommen können:

1. Mitreißende Visionen

Die großen Themen der Menschheit wie Energie, Mobilität, Wohnraum, Bildung oder Ernährung und damit auch Stadtgestaltung sind komplexe, soziotechnische Systeme wie ein Korallenriff in der Natur. Denn sie bilden sich aus Verknüpfungen zwischen dem Sozialen und Technischen z. B. Kultur, Regularien und Gesetze, physische Artefakte, Märkte und Industriestrukturen mit ganz unterschiedlichen Dynamiken. Die Transformation solcher Systeme dauert oft 30–50 Jahre. Wenn wir möchten, dass Menschen heute anfangen, sich als Mitgestalter:innen zu verstehen und eine neue Loyaliät entwickeln sollen, dann benötigen wir starke Visionen, die uns motivieren. Bilder zu konstruieren ist eines der wichtigsten menschlichen Werkzeuge, denn sie eröffnen neue gedankliche Horizonte, bringen aber auch abstrakte Ideen zusammen. Bilder „ziehen“ uns unterbewusst in die Zukunft. Schon mal den Begriff kathedrales Denken gehrt? Dahinter verbirgt sich ein Denken und Blick in die Zukunft, der weiterreicht, als unser eigenes Leben. Es leitet sich ab vom Bau epischer Projekte für die Zukunft, also Bauwerke, die wir heute starten, aber nicht zu unseren Lebzeiten fertiggestellt werden. Pyramiden z. B. oder eben Kathedralen.  Über Jahrhunderte haben Menschen daran gearbeitet, obwohl sie selbst nichts davon hatten und möglicherweise erst von den Urenkeln fertiggestellt wurden. Die Basis hierfür war eine gemeinsame Vision für Prachtwerke, die in die Geschichte eingehen sollten. Auch wenn man selbst nicht direkt etwas davon hatte, motivierte es die Menschen Teil dieser Vision zu sein und einen Beitrag dafür zu leisten. Dieses Denken haben wir über die Zeit verloren. Die großen Themen unserer Zeit aber genau nach diesem gemeinsamen Bauen von Visionen. Visionen bilden die Basis für unsere Innovationen und damit unsere Realität. Viele gegenwärtige Zukunftsbilder zeigen oft nur urbane Megastädte, Smart Citys und neue Fassaden, Entwürfe für unser zwischenmenschliches Miteinander aber gibt es kaum. Dies gilt es zu ändern.

2. Neue soziale Innovationen

Eine nachhaltige Stadt baut auf den Säulen sozial, technisch und grün auf, so Kaltenbrunner und Jakubowski. An grünen und technischen Innovationen mangelt es uns nicht. Dahinter versteckt sich das Problem, dass es unserem Gehirn viel einfacher fällt Neuerungen in Form von Technik oder Produkten zu visualisieren, als ein soziales Gefüge. In kaum einem alten Bild zur Stadt der Zukunft sieht man z. B. Ideen wie ein Rauchverbot oder die Gleichstellung der Frau. Genau das aber braucht es. Wir müssen daher neue Zukunftsbilder schaffen, die sich aus dem Gefühl ableiten, also der Frage: Wie wollen wir künftig leben statt, wie werden wir leben. Wie würde sich z. B. ein freier Freitag für alle auswirken, oder wie ließe sich ein neues Tageskonstrukt denken, bei dem, ähnlich zur Siesta im Süden, wir alle eine lange gemeinsame Mittagspause hätten? Und was macht es mit unserem Zusammenleben, wenn Schulen erst 9 statt 8 Uhr starten? Warum haben große Städte kein Maskottchen, sodass die Stadt ein Gesicht bekommt, mit dem man sich identifizieren kann? Um nur einige Ideen zu nennen.

3. Politische Missionen

Die Gestaltung einer guten Infrastruktur, sowohl technisch als auch sozial, ist die Kernaufgabe von Politik. Angefangen bei einem fairen Wohn-, Bildungs- und Gesundheitssystem, neuer Mobilität bis hin zu Urban Farming vor der eigenen Tür und gemeinsamen Märkten und Kiezfesten. Dabei geht es um mehr als nur neue mutige und kreative Ideen, Kommunen und Gemeindevertretungen müssen Missionen in die Gesellschaft geben. Bisher machen wir vor allem viel Politik gegen, aber kaum für etwas. Wie lassen sich Vereine, Bürgerinitiativen, Kiez Quartiere und Bürger:innen motivierend zusammenbringen? Gerade in Stadtstaaten, wo es keine Bürgerversammlungen wie in kleinen Dörfern gibt und die komplex sind, fehlt es an Verantwortungsüberblicken und gemeinsamer Identifikation. Die Arbeit mit Missionen, wie es das Vorbild der NASA aus den 1960er-Jahren zeigt, kann hier enorme Kräfte freisetzen. Ein anschauliches Beispiel hierfür sind Citizen Science Projekte wie z. B. “Your Emotional City!”, bei dem Bewohner:innen einer Stadt in einer App benennen und bewerten, welche Orte bestimmte Emotionen triggern, sodass Wissenschaft und Politik dann aktiv Lösungen finden können. Denn das Leben und Aufwachsen in der Stadt geht mit einem höheren Risiko für einige psychische Erkrankungen und sozialen Stress. Dies zu lösen braucht verschiedenste Akteure und systemische, kollaborative neue Ansätze. Zusammengehalten werden sie durch Missionen.

4. Neue Task Forces und Rollen

Warum gibt es nicht schon längst richtige Kiez Manager:innen oder mehr Bürger:innen Büros? In Paris gibt es z. B. die Idee der „Lulu dans ma rue“ zu Deutsch „Lulu in meiner Straße“. Dahinter verbirgt sich ein kleiner Kiosk, betrieben von einem gemeinnützigen Verein, der Jobs schafft auf lokaler Ebene, d. h. „Lulus“ übernehmen Heimwerkerarbeiten, Hilfe bei Behördenkram oder reparieren Computer – und das zum kleinen Preis und direkt vor der Haustür. Damit soll wieder mehr Menschlichkeit ins Viertel kommen und Nachbarschaft als Geborgenheit, Gemeinschaft und Überschaubarkeit gelebt werden. Gerade die Arbeit mit Menschen – ob kreativ, in der Pflege, Kultur, im Handwerk oder in der Bildung – bildet den Kern unserer Gesellschaft. Eine gute Stadtplanung hat das im Blick. Sie setzt sich für Menschen ein, die uns jeden Tag zur Seite stehen und versorgen, ob als kleiner Betrieb, Verein oder Künstler:innen. Die Mietkrise, ob für Gewerbe oder Wohnraum, verdrängt genau diese Menschen immer mehr aus der Stadt. Eine gesunde Stadt aber wie z. B. die Idee der 15 Minuten Stadt braucht all diese Zugänge und Begegnungen fußläufig.

6. Gemeinsame Erlebnisse

Musik und Kunst verbindet uns Menschen und bringt uns auf die Straßen, aber im Guten. Nicht umsonst sind Tanz und Musik in einigen Stämmen ein wichtiges Ritual. Warum fördern wir das nicht noch mehr durch mehr kostenlose Kiezfeste und Konzerte? In Amerika z. B. ist dies ein fester Bestandteil sogenannter Gated Communitys. Hier kommt die Nachbarschaft regelmäßig freitags mit eigenen Stühlen im Park zusammen, grillen oder lauschen Musik. Am nächsten Tag kann man gemeinsam den Park aufräumen und Bürger:innen mit kostenlosen Croissants danken. Um auch hier nur mal eine Idee zu nennen.

7. Mehr Zeit

Mehr Loyalität und neue Verantwortung aber benötigt vor allem eins: mehr Zeit. Ein mündiger Bürger sein, den Wocheneinkauf auf dem Markt machen, Dinge selbst reparieren, sich informieren, wo die gekaufte Mode herkommt, entscheiden, wen ich am kommenden Sonntag wähle, mit nachhaltigen Produkten die Wohnung putzen, das selbst gebastelte Geschenk, das Ehrenamt im Fu?ballclub – all das benötigt Zeit und Aufmerksamkeit. Wenn wir uns eine Gesellschaft wünschen, die sich im öffentlichen Raum gestalterisch und wertschätzend begegnet, dann müssen wir auch die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Stadtplanung ist damit keines Weg nur Aufgabe der Gemeinden, sondern auch vor allem des Staates, der uns unterstützt in der Not, für Mut belohnt und uns Werkzeuge bereitstellt, damit wir nicht nur mündige, sondern gestaltende Bürger:innen werden. Der vor allem den öffentlichen Raum gestaltet, denn dort findet ein großer Teil unseres Lebens und Begegnung statt.

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