Im Interview: Zukunftsforscherin Aileen Moeck im Changerider: „Deutschland lebt Fortschritt nur oberflächlich“

Mit dem Video- und Podcastformat Changerider wollen Etventure-Gründer Philipp Depiereux und t3n den Menschen die Angst vor der Digitalisierung nehmen. In der aktuellen Folge fährt Zukunftsforscherin, Bildungsaktivistin und Gründerin von „Die Zukunftsbauer“ Aileen Moeck mit.

(Original des Interview ist in der T3N)

Wie würde unsere Welt heute aussehen, wenn man in die Zukunft schauen könnte? Zukunftsforscherin Aileen Moeck kann die Zukunft zwar nicht vorhersagen, allerdings spannende Impulse liefern, wie wir Zukunft als einen Raum verstehen, den man mit Ideen, Gedanken und Impulsen erschaffen kann – also als etwas, dass wir alle mitgestalten. Das ist jetzt notwendiger denn je. Für die aktuelle Corona-Lage und das brüchige Bildungssystem findet sie klare Worte: „Es gibt halbherzige Digitalisierung und die Überführung der alten Pädagogik in eine augenscheinlich neue digitale Welt, die am Ende aber doch das Gleiche ist. Eben nur im neuen Gewand. Leistung, Noten, Frontalunterricht und Fokus auf Wissen – das alles sind Parameter aus der Industriezeit. Wir leben aber im Anthropozän, dem menschengemachten Zeitalter. Umgang mit Nichtwissen und Komplexität statt Wissensvermittlung muss im Vordergrund stehen! Wir müssen das gute Leben lehren und Impulse für das eigene Lernen geben, statt Karriere und Abschluss zu zelebrieren. Beziehungslernen, eigenes erfahren und erleben: Das müsste Kern eines neuen Bildungsdenkens sein. Wir müssten radikal progressiv sein, weg lassen, neu machen und zentral steuern“, so die Unternehmerin.


Disclaimer: Das Video wurde bereits vor der Corona-Pandemie aufgezeichnet. Schon damals fand Aileen Moeck deutliche Worte für die Defizite im Bildungssystem. Für diesen Artikel haben haben wir mit ihr noch einmal über die Auswirkungen der aktuellen Krise gesprochen.

Führt den „Frei-Day“ ein

Die Gründerin selbst wurde mit ihrer gemeinnützigen Bildungsinitiative „Die Zukunftsbauer“ in der Corona-Pandemie hart getroffen. Ihr erstes großes Stiftungsprojekt mit 20 Schulklassen musste ausfallen. Es sind viele Spenden und neue Förderprojekte weggebrochen und als gemeinnützige Firma ist sie durch fast alle Soforthilfe-Regelungen gefallen. Das ist dramatisch, denn unser Bildungssystem hat seine Schwachstellen in der Corona-Pandemie mit voller Wucht offenbart. Initiativen, wie die von Aileen Moeck, wären einmal mehr von Bedeutung. Doch auch kleine Schritte, so ist sich Moeck sicher, würden im Bildungssystem schon etwas verändern: „Den ‚Frei-Day‘ einführen, also den Unterricht auf Montag bis Donnerstag konzentrieren und dann am Freitag Raum für Projekte und eigene Zukunftsthemen geben. Dort können auch wunderbar außerschulische Lernorte und Partner integriert werden. Das entlastet auch die Lehrer, die wiederum diese Zeit für ihre eigene Fortbildung nutzen können. Oder auch Experten aus der Wirtschaft als Interims-Manager an Schulen einstellen, solange bis die Transformation grundlegend steht. Vor allem aber: einen Budgettopf für Innovation bereitstellen, aus dem Schulen Experimente finanzieren können.“.

Es fehlt einer ganzen Generation an Leichtigkeit

Wie erleben Jugendliche derzeit selbst die Coronakrise? Erst kürzlich zeigte eine Befragung von 7.000 Jugendlichen durch die Universität Hildesheim und Frankfurt, dass rund 50 Prozent eher ängstlich in die Zukunft schauen. Das erlebt auch die Zukunftsforscherin in ihren Workshops mit Jugendlichen. „Zu der allgemeinen Verunsicherung kommt heute noch die Masse an Möglichkeiten, der Druck durch Individualisierung und ein Ohnmachtsgefühl in Bezug auf Demokratie und Klima. Es fehlt einer ganzen Generation an Leichtigkeit. Mit Corona noch mal mehr“, so Moeck. Die Schulen sollten jetzt alles daran setzen, den jungen Menschen positive Erlebnisse zu geben und Wege aufzeigen, ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren. „Denn nur daraus schöpft man eigene Resilienz, Mut, Proaktivität und Erfahrung. Das sind die Grundlagen für zukunftsfähige Bürger*innen. Jungen Menschen rate ich oft, den Druck rauszunehmen. Abschlüsse werden künftig keine so große Rolle mehr spielen. Es muss nicht das Studium sein, auch andere Wege sind interessant. Ein Hobby oder Verein hilft, sich selbst kennenzulernen. Auch das fördert Selbstwirksamkeit.“

Und bei allen Bemühungen für eine bessere Zukunft, bringt die Corona-Pandemie laut Aileen Moeck nun endlich auch andere Schwachstellen ans Licht. „Deutschland lebt Fortschritt nur oberflächlich und jetzt zeigt sich, was lange falsch läuft: Wir haben ein instabiles, komplexes Gesundheitssystem, fehlende Wertschätzung für Kultur, einen fehlenden Ausbau des Internets, analoge Schulen und kein Pragmatismus für wichtige Entscheidungen. Stattdessen ein enorm wachsenden Bürokratie-Berg. Plus: die fehlende Anerkennung für Gründer*innen, Unternehmer*innen und Selbständige. Als Land mit einer Angestelltenkultur fehlt uns auch hier die Wertschätzung, für das, was diese Gruppe an Menschen leistet.“

Wenn wir immer nur das Negative fokussieren, sind wir nicht offen für das Gute

Trotzdem bleibt sie positiv, denn Zukunft bedeutet für sie eben auch, einen neuen Raum zu gestalten, indem wir unsere Gedanken und Bilder auf eine Wunsch-Zukunft lenken. „Wir verfügen im Gehirn über eine Wahrnehmungsverzerrung. Wenn wir immer nur auf das Negative fokussieren, sind wir nicht offen für das Gute. Brennende Wälder oder der Eisbär auf der Eisscholle zum Beispiel sind keine Bilder, die uns zur Handlung aktivieren, sie sind weit weg und führen eher zu Angst, die uns lähmt. Wenn wir aber aktiv Bilder schaffen wie beispielsweise eine Gemeinde im Jahr 2050 aussieht, wie es riecht, was man hört und ich mich selbst darin sehe – dann werde ich ganz anders berührt und motiviert, heute Entscheidungen zu treffen, die auf dieses gute Bild einzahlen. Aber ja, leider sieht unsere Berichterstattung lieber den Skandal und die Clickbaits.“.

Ihr Appell für eine bessere Zukunft: „Werdet radikal positiv! Jeden Tag. Jedes Lächeln zu einem anderen Menschen kann schon ein tolles Erlebnis sein, das diesem wiederum Hoffnung gibt. Ich glaube, das ist der Kern: Die Beziehungen unter uns Menschen und unser eigener Umgang mit uns und der Natur.“

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Von der Pro-gnose zur Re-gnose, warum es Zeit für ein neues Zukunftsbewusstsein ist