Von der Pro-gnose zur Re-gnose, warum es Zeit für ein neues Zukunftsbewusstsein ist

Mit Corona erlebten wir ein Zukunftsbeben. Die seit Jahren in uns getragene Unsicherheit vieler Menschen ist auf einem Höchststand angekommen. Aber: Diese Krise, vielmehr dieses Ereignis, darf kein Grund für Zukunftsangst sein. Wir dürfen nicht den Kopf in den Sand stecken, denn mit jeder neuen Herausforderung eröffnen sich umso mehr neue Möglichkeitsfelder. Dies aber erfordert ein neues Bewusstsein dafür, wie wir über Zukunft denken.

(Original Artikel von März 2020)

Anfang 2020 schrieb ich hier auf LinkedIn, das es Zeit ist für Visionen und wir das neue Jahrzehnt nutzen können, um gemeinsam neue Narrative zu gestalten. Doch, um von einem antrainierten Faktenmodus in einen kreativen Zukunftsbildermodus überzugehen, müssen wir unser Denken ändern. Der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx hat hier in seinem jüngsten Beitrag, der viel Anklang fand, den Begriff der Re-gnose eingeführt (für alle, die den Artikel nicht kennen: Hier entlang).

Die Re-gnose

M. Horx sagt in diesem Artikel keine Zukunft voraus, sondern er skizziert ein Bild von einer (seinen) wünschbaren Zukunft und den Weg dort hin. In der Zukunftsforschung sprechen wir bei diesem Ansatz vom Backcasting, d.h. statt sich auf die Zukunft zuzubewegen, blicke ich aus der Zukunft zurück aufs heute. Dieser normative Ansatz ermöglicht es unsere Gestaltungskraft anzuregen, Mut zu machen, Chancen zu entdecken, neue Geschichten zu erzählen und einen inneren Anker zu setzen. Um solche Re-gnosen zu skizzieren, muss man keinE ZukunftsforscherIn sein, sie können von jedem von uns gestaltet werden. Denn solche Zukunftsbilder bauen nicht auf Fakten auf, sondern auf der Fähigkeit der Imagination. Diese Kraft ist eine zutiefst menschliche und sie steckt in jedem Einzelnen von uns. Zeit ihr Raum zu geben!

Dennoch, um die Besonderheit des Artikels von Horx zu erkennen und selbst ZukunftsgestalterIn zu werden, muss zunächst ein grundlegendes Verständnis davon existieren, wie sich Zukunft überhaupt bildet. Dabei zeigt mir meine eigene Erfahrung: Je mehr wir uns damit beschäftigen, wie Zukunft entsteht und wie sie aussehen kann und soll, umso weniger lähmen uns Ereignisse wie Corona, aus Zukunftsangst wird Stück für Stück Zukunftsbegeisterung.

Wildcard "Covid-19"

Das, was wir mit Corona gerade erleben, nennt man auch ein Zukunftsbeben. Das Verrückte: Eine solche Pandemie führen viele ZukunftsforscherInnen bereits seit Jahren in ihrem Repertoire an Wildcards. Nun aber wurde diese Karte auch tatsächlich gezogen. Für alle, die diese Karte nicht kannten, ist das ein ziemlicher Schock. Wildcards sind Ereignisse, die im Rahmen unseres Möglichkeitsspektrums (und damit auch eigentlich auch innerhalb unseres Wissensspektrums) liegen, die, sofern sie passieren, einen sehr hohen Impact haben, jedoch gleichzeitig sehr unwahrscheinlich sind. Dabei streiten sich die ZukunftsforscherInnen aktuell noch, ob Corona eher der Metapher eines Black Swans oder eines Grey Rhino zuzuordnen ist. Black Swans sind laut Definition eigentlich Ereignisse, die außerhalb unseres Wissensspektrums liegen, sogenannte Unknown Unknowns, Nichtgewusstes Nichtwissen. Die These: Corona war bereits lange bekannt, wir haben es nur bewusst ignoriert. Daher ist es kein Black Swan, sondern ein Grey Rhino. So weit, so gut. Worauf wir uns aber bis hierhin schon mal einigen können ist: Corona ist ein Ereignis, das unseren Status Quo zerstörte, einen Bruch bringt und egal was auch kommt, unser Leben wird danach nicht mehr das Gleiche sein. Warum aber nimmt es uns so mit? Dafür muss man einmal kurz verstehen, wie Zukunft entsteht.

Zukunftsgenese: Kontinuität vs. Ereignis

Denken wir an Zukunft, dann denken wir zumeist an das, was zeitlich vor uns liegt. Unser Gehirn skizziert Zukunft dabei aufbauend auf Erfahrungen aus der Vergangenheit und Informationen aus der Gegenwart. Das lässt uns jedoch schnell in die Falle tappen anzunehmen, das Zukunft eine lineare Fortschreibung der Gegenwart sei. Und schaut man sich die Berichterstattung unserer vor allem auf Kurzfristigkeit aufbauende Welt an, dann finden wir uns in diesem Denken auch oft bestätigt, von Börse bis Wetterbericht. Dabei sind es vor allem die Bilder von einer auf (linearem!) Wachstum aufbauenden Wirtschaft, die uns hier besonders stark prägen. Durch diese Linearität unseres Denkens vertrauen wir schnell auf Prognosen, also Vorhersagen, und lassen uns von ihnen in die Zukunft leiten. KeinE ZukunftsforscherIn hört es gern, aber die Annahme, Zukunft baue auf Prognosen auf ist doch eine weit verbreitete. Das gefährliche hier: Zukunft wird uns als eine Zielvorstellung verkauft, die geplant werden kann, wir meinen, wir hätten die Zukunft verstanden. Corona aber hat beweisen: Alles kann sich ändern, von heute auf morgen und ohne Voranmeldung.


Denn, Zukunftsgenese, also das Entstehen von Zukunft, basiert eben nicht nur auf der „Verlängerung sozialwissenschaftlicher Theorien zum Wandel = Trends“ oder der Extrapolation von Daten, die schon prinzipiell nur vergangene und gegenwärtige Phänomene beschreiben können, sondern vor allem auch auf Diskontinuitäten (Brüche zur Vergangenheit) sowie der Freiheit einer proaktiven Zukunftsgestaltung (vgl. Tiberius 2012). Diskontinuität meint das Auftauchen von Unbekanntem, welches bis zum Eintreten meist unsichtbar oder gar unvorstellbar ist:

Von diesen Brüchen haben wir schon einige erlebt, man denke nur an Tschernobyl, 9/11, den Tsunami 2006 oder die New Economy Blase. Unsere Welt ist nach einem solchen Bruch nicht mehr die gleiche. Das, was neu ist an Covid-19, ist die Globalität und Dauer dieses Phänomens.

Wie geht's weiter?

Noch erleben wir Corona als ein Zukunftsbeben. Es fällt uns schwer damit umgehen zu können. Es passt nicht in unser geregeltes Denken, zu den Glaubenssätzen und Annahmen, die wir von der Welt haben. Es passt nicht in diese Welt, in der wir glauben, dass wir durch so viele Zugänge zu Technologie und Daten doch alles wissen müssten. Dachten wir doch, diese Welt entwickelt sich stets linear weiter, und lernen nun schmerzhaft, das die Linearität, die uns die Wirtschaft vorgaukelt, gar nicht Teil der Natur ist. (Diesen Überraschungseffekt kennen wir übrigens nicht nur von der aktuellen Pandemie, sondern auch aus Digitalisierungsdebatten, denn auch Technologie entwickelt sich exponentiell.). Und so sitzen wir hier alle zusammen in unseren Wohnungen (wie dankbar wir darüber in diesen Tagen sein sollten, ein Dach über dem Kopf zu haben) und gucken quasi auf ein leeres Blatt.

Doch, aus jedem Bruch, formiert sich auch eine neue Welt. Die Frage ist, wie wir auf diese neue Welt zugehen wollen, durch Angst gelähmt, auf Unsicherheit aufbauend oder mit Mut und Begeisterung, der Überzeugung, dass wir sie selbst gestalten können?!

Ein neues Zukunftsbewusstsein

Um künftig besser mit Brüchen und Unsicherheit, die in der Natur unseres Lebens stecken, umgehen zu können, braucht es ein anderes Verständnis von Zukunft: Wir müssen uns lösen von Zukunft als eine Verlängerung der Gegenwart, wir müssen uns lösen von Zukunft als eine Zielerreichung, wir müssen uns lösen von Zukunft als etwas das wir voll umfänglich verstehen wollen. Stattdessen sollten wir Zukunft als einen Raum* erkennen. Denn, auch wenn wir nicht wissen können was morgen kommt, so können wir diesen Raum doch heute schon aktiv gestalten.

*Bevor Zeit jedem minutiös zugänglich war durch die Erfindung der Armbanduhr, war Zukunft, vor allem die Utopie, in unserer Vorstellung übrigens meist ein Ort. Eine fremde Welt, zu der es sich lohnte aufzubrechen. Mit der Taktung aber verschwand nicht nur unser visionäres Denken, sondern auch die Agilität in unserem Kopf mit Neuem und mit Unsicherheit gut umgehen zu können. Waren wir früher vielleicht sogar besser in der Lage mit Ungewissheit umgehen zu können als heute?

Die Zukunft der Zukunft

Der Zukunftsforscher Richard A. Slaughter schrieb schon 2008 in seinem Artikel "Die Zukunft der Zukunft", dass es ein neues Zukunftsbewusstsein braucht und leitet mit seinem Ansatz Integral Futures, ein neues Paradigma in der Zukunftsforschung ein. Ein Ansatz der vor allem auf Werten aufbaut und beim einzelnen Mensch ansetzt. Geht man noch weiter zurück haben sich bereits Zukunftsforscher wie Alvin Toffler 1970 und Robert Jungk 1952 für einen neuen und vor allem aktiveren Umgang mit Zukunft eingesetzt, weniger starr, weg von der Zielerreichung als einzige Motivation und hin zur gemeinsamem Gestaltung.

Dabei geht es nicht darum keine Szenarien zu entwickeln, sondern stattdessen eine Vielzahl an Bildern zu öffnen.
Indem wir Zukunftsvorstellun3gen erkunden und Bilder schaffen, die vor allem auf Wünschbarkeit aufbauen, berührt uns Zukunft plötzlich, anders als kalte Fakten. Bilder motivieren und helfen uns einen geistigen Anker zu setzen, lassen aber trotzdem noch genug Raum für Anpassung. Um solche Bilder zu schaffen, braucht es einen anderen gedanklichen Zugang zur Zukunft. Und hier kommt die Re-gnose ins Spiel oder auch Ansätze wie Design Fiction. Warum kann M. Horx ein solch schönes Bild skizziert, weil der zukunftsliterat ist, ein Begriff der vor einiger Zeit von der UNESCO eingeführt wurde.

Futures Literacy

Unter Futures Literacy (im Deutschen meist mit Zukunftskompetenz) ersteht man eine Fähigkeit, die nicht nur ein aktives und bewusstes Antizipieren meint, sondern vielmehr, verschiedene Antizipationssysteme und Prozesse zu kennen, zu verstehen und je nach Kontext und Zweck bewusst zu wählen und einzusetzen. So lasse sich Zukunftsangst- oder Lähmung vor allem auf eine fehlende Vorstellungskraft zurückführen, da Menschen zumeist nur auf die beiden dominierenden, bewussten und geschlossenen Antizipationssysteme Vorbereitung und Planung zurückgreifen. Beide Antizipationssysteme reduzieren Zukunft jedoch nur auf ein erkennbares Ziel, welches auf der Annahme beruht, dass die Zukunft gekannt wird oder wir unsere Zukunftsvorstellung der Zukunft aufzwingen können. Zudem bauen geschlossene Antizipationssysteme ausschließlich auf bereits bestehendem Wissen auf. Dies hemmt allerdings nicht nur die Identifikation und Findung von Diskontinuitäten, sondern verhindert auch und vor allem eine Offenheit für Neues (vgl. Miller, 2015). Kinder können das übrigens von Natur aus sehr gut, man nennt es auch Entdeckertum ;-)

Was ist deine Re-gnose?

Das Zukunftsbeben Corona zeigt mehr denn je, ohne die gemeinsame Gestaltung neuer Welten wird es nicht gehen. Lasst uns also alle gemeinsam Re-gnosen skizzieren. Da das Wort ein sehr schwerfälliges ist, sprechen wir lieber von Zukunftsgeschichten- und bildern. Doch nur das Skizzieren reicht nicht, wir müssen uns auch überlegen, wie wir unseren Beitrag dazu leisten können auch wirklich dort hin zu kommen. Wir alle sind jetzt gefordert kreativ zu werden und neue Rollen für uns zu finden. #wirvsvirus zeigt schon jetzt: Corona wird neue Missionen bringen. Wichtig aber ist, dass wir nicht nur aus dem Defizit heraus denken, sondern vor allem aus den Möglichkeiten. Also, was wird deine neue Zukunftsmission sein?

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Im Interview: Zukunftsforscherin Aileen Moeck im Changerider: „Deutschland lebt Fortschritt nur oberflächlich“